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Die Wildnis

Harmonie, natürliches Gleichgewicht und unbestrittene Stille

Bei dem Begriff Wildnis (Wilderness) denkt man im allgemeinen an grenzenlose Räume, wilde und vom Menschen unberührte Orte. Aber das Val Grande ist nicht nur das. Hier sind die Spuren der menschlichen Präsenz gut sichtbar: Maultierpfade, Almen, Terrassen, Überreste von Schwebebahnen bezeugen, wie der Mensch in den vergangenen Jahrhunderten das Tal intensiv genutzt hat.

Wildnis im Val Grande ist gleichzusetzen mit einem mittlerweile verlassenen Ort, ohne Straßen, ohne dauerhafte und nicht einmal saisonale Ansiedlungen, wo die Natur langsam ihren Raum zurückerobert. In diesem Tal bedeutet Wildnis Harmonie, natürliches Gleichgewicht und unbestrittene Stille.
Eine Stille, die man körperlich erlebt, die Stille der verlassenen Orte, die Gelegenheit gibt stehenzubleiben und zuzuhören. Es gibt die Stille des Gedächtnisses, die Erinnerungen aufkommen und die Gedanken frei fließen lässt. Es gibt die Stille in uns selbst, des In-sich-hineinhorchens, dem Versuch, die Dinge im Innersten zu erforschen oder sich zu erheben und die verschiedenen spirituellen Ausdrucksformen zu suchen.

Val Grande bedeutet somit Wiederentdeckung der Stille als Wert und als Bedingung, um besser zuhören zu können, uns selbst, den anderen und der Welt um uns herum. Das Rauschen der Blätter im Wind bemerken, das Rascheln des Laubs unter den Füßen, das Knistern der Glut im Kamin, der Gesang der Eule, der in die Nacht eindringt oder das Pfeifen der Alpenkrähen, die sich jagen, während sie über die Felsen fliegen.
Die Stille erleben, sie fast mit allen Sinnen berühren und die dadurch ausgelösten Gefühle kontrollieren: Angst, Ruhe, Gefühl der Einsamkeit, Komplizenschaft mit den anderen und den Dingen um uns herum. Und durch den Erfahrungsaustausch und das Zuhören kommt der Respekt vor sich selbst und vor den anderen, in der Verschiedenheit eines jeden, die Wertschätzung und die Pflege der Dinge und das Umdenken in der Beziehung Mensch-Natur und der Beziehung von Mensch zu Mensch, dank genau der Lehre der Natur, die ständig zu neuen Gleichgewichten tendiert.

Ein wilder und abgeschiedener Park wie der Val Grande darf allerdings keine glückliche Insel sein, eingeschlossen dort oben zwischen Bergkämmen oder unten auf der Sohle der steilen Täler, wo der Wildbach dröhnt und sein Wasser zum See führt, eine Insel, zu der man nur kommt, um sich zu erholen, zu verstecken, Zuflucht zu suchen, als vielmehr ein Ort, an dem man Dynamiken und Abläufe versteht, die auch andernorts, in unserem täglichen Leben wiederholbar und vermittelbar sind.

Das Val Grande kann eine Herausforderung sein, vor allem für sich selbst. Es handelt sich nicht um einen "strukturierten" Park, in gewisser Weise "domestiziert", aber zugleich ist er nicht schwierig zu nutzen. Der Nervenkitzel des Val Grande entsteht nicht wegen realer und greifbarer Gründe bei seiner Begehung, sondern bei seinem Erleben. Daher muss man vorsichtig sein: im Val Grande kann man sich verlieren. Nicht physisch, sondern geistig und gefühlsmäßig, indem man mit der Erhabenheit in Kontakt kommt: wie das Meer im Sturm, wie der Ausbruch eines Vulkans, "die Natur produziert", um es mit den Worten des Philosophen Edmund Burke zu sagen, "das stärkste Gefühl, das die Seele zu empfinden fähig ist".
Und die Erhabenheit "explodiert" in der Nacht, die im Val Grande ganz besonders dunkel ist: weit entfernt von Lichtquellen kann man das Schauspiel des Sternenhimmels und der Milchstraße bewundern wie kaum an anderen Orten. Die Unendlichkeit des Raums kann man von einem der von der Parkbehörde geschaffenen Biwaks aus betrachten, wo man die Nacht auf einfache Art bei der Wärme eines Ofens oder der Flamme eines Kamins verbringen kann.
Am Morgen danach begrüßt das Licht des Sonnenaufgangs einen neuen Tag der Wanderung, der den Wanderer erholt und zufrieden zu seinen täglichen Rythmen zurückbringt, während das Val Grande da bleibt, mit seinen Geräuschen und seiner Stille, und wieder auf jemanden wartet.

Von Scaredi bis Straolgio
Von Scaredi bis Straolgio
(photo von: Claudio Delsolaro)
Rio Valgrande
Rio Valgrande
(photo von: Bernhard Herold Thelesklaf)
Morgendämmerung beim Mottac
Morgendämmerung beim Mottac
(photo von: Cristina Movalli)
Undurchdringliche Wälder
Undurchdringliche Wälder
(photo von: Giancarlo Parazzoli)
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