Ein Leben „im Anstieg“
Die Geschichte der Berggemeinschaften, deren Überleben untrennbar mit einem schwierigen Gebiet und einer schwierigen Natur verbunden ist, bedeutet ein Leben „im Anstieg", und nicht nur im übertragenen Sinne. Jahrtausendlange Kämpfe um das Land zu bewirtschaften, um sich zu bewegen, um den Bergen mühsam notwendige Ressourcen zu entreißen: Steine, Holz, Land für den Anbau und für Weideflächen.
Die Vertikalität selbst war das wichtigste Element des Überlebens: ihre ganze Wirtschaft basierte auf den saisonalen Höhenveränderungen entsprechend dem Rhythmus der Natur. Davon zeugen die riesigen für die Bewirtschaftung bestimmten Terrassierungen und das enge Netz an Straßen und Wegen, die die Hänge der Täler kennzeichneten und die Talsohle mit den Bergweiden und Almen verbanden.
Für die Berggemeinschaften waren die Ressourcen besonders arm: die Almweiden erreichen konnte bedeuten, dass man ein Rind nach dem anderen entlang enger und unwegsamer Wege begleiten oder das wenige Regenwasser in Steinbehältnissen sammeln musste, um so den Bergen das Überleben abzuringen, an einem (mühsamen) Alltag "im Anstieg".
Die Ortschaften, die das Tal umgeben, haben ihren Ursprung in der römischen Zeit, einige sogar in der Eisenzeit. Außer den in den Nekropolen von Malesco und Miazzina gefundenen zahlreichen Felsgravierungen und Grabausstattungen ist der keltische Kopf von Vogogna von großer Bedeutung.
In dem kleinen Ortsteil Dresio, kann man, eingefügt in einen Brunnen aus dem Jahre 1753, die Reproduktion des sogenannten "Maskaron" bewundern, ein geheimnisvoller Kopf aus Speckstein der keltischen Tradition. Das Original, das der Eisenzeit zugeschrieben wird (ca. 450- 15 v.Chr.) wird heute im Pretorio von Vogogna aufbewahrt; es ist eines der bedeutendsten Zeugnisse der keltischen Kunst im Piemont. Die Gravierungen, die dem Gesicht Form geben, und zwar auf der Stirn und an den Seiten der Augen sowie der große Schnurrbart unter der geradlinigen Nase heben den symbolischen Wert der Maske hervor, dessen Falten sich vereinen und einen Baum bilden, der an den Linien an der Nase beginnt und bis zu den hochgezogenen Augenbrauen geht. Wahrscheinlich sollte dieses außergewöhnliche Zeugnis der darstellenden Kultur des Lepontinischen Ossola den keltischen Gott Belenos/Apollon darstellen. Archäologische Untersuchungen gehen davon aus, das das Maskaron Teil einer Statue ist, die draußen an einem geweihten Ort stand.
Vor dem Jahr Tausend wurde das Val Grande wahrscheinlich von Jägern aufgesucht, aber mit Sicherheit war es nie bewohnt, da es zu wild und unzugänglich war.
Eine Urkunde von 1014 berichtet uns von "wilden Wäldern" jenseits der Colma di Premosello. Das Val Grande wurde noch "Valdo" bzw. "Bosco", "Foresta" genannt. Die ersten Schäfer suchten Zuflucht in den "balme", Unterschlüpfe unter den Felsen der prähistorischen Tradition. Zwischen dem 10. und 12. Jh. beginnt die Landschaft des Tals sich zu verändern. Wilde Wälder und brachliegendes Land werden abgeholzt und zu Weideland gemacht. So entstehen die Sommeralmen und die vorübergehend im Frühjahr und im Herbst bewirtschafteten Bergweiden (maggenghi).
Ab dem 14. Jh. wird die Holzfällerei zu einer weiteren Einkommensquelle für die Gemeinschaft des Val Grande, mit der immer intensiver bis Mitte 1900 fortgefahren wird. Heute sind Reste von Schwebebahnen, Köhlerplätze, nach dem Absägen des Hauptstammes nachgewachsene Buchensprösslinge einige der Zeugnisse der Abholzungen. Die verlassenen Bergweiden werden dagegen von Pionierarten wie der Birke wiederbesiedelt: eine Landschaft, die von Jahr zu Jahr ihr Aussehen verändert, mit der Natur, die wieder dominiert.
Auf diesen Bergen wurde außerdem ein bedeutendes Kapitel des italienischen Widerstandes geschrieben. Im Juni des Jahres 1944 fanden im Val Grande und im Val Pogallo heftige Auseinandersetzungen zwischen Partisanengruppen und neofaschistischen Truppen statt. In Pogallo erinnert eine Gedenktafel an 17 junge Partisanen (von denen einige unbekannt geblieben sind), die am 18. Juni 1944 erschossen wurden. Im oberen Verbano gab es zweihundert Opfer der Offensivmission (Rastrellamento) bei Kämpfen und Hinrichtungen, die in Fondotoce mit der Erschießung von 43 in verschiedenen Orten des Val Grande gefangengenommenen Partisanen endete.
Genau dort, in Fondotoce (Verbania) steht das Casa della Resistenza (Haus des Widerstandes), ein wichtiger Ort der Erinnerung und der Aggregation, um die Schrecken des 2. Weltkrieges und aller anderen Kriege nicht zu vergessen.
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